Die vier großformatigen Ölgemälde der „Kriegerehrung“ von 1924 in der Christuskirche von Gelsenkirchen-Bismarck können als ein „Kreuzweg“ interpretiert werden.
Als zentrale Darstellung wird hier die Hinrichtung Christi auf dem Berg Golgotha bei Jerusalem von drei weiteren Bildtafeln flankiert,
links von der Kreuztragung, rechts von der Grablegung sowie vom Emmausgang am Tag nach der Auferstehung Jesu.
Dieser Bilderzyklus sollte die 269 Soldaten aus der evangelischen Kirchengemeinde in Bismarck ehren, die während des Ersten Weltkriegs gewaltsam zu Tode gekommen waren.
Auf zwei Tafeln trägt der römische Hauptmann, der die Hinrichtung Christ organisierte und leitete, die Gesichtszüge Otto von Bismarcks,
des maßgeblichen Initiators der Deutschen Reichsgründung von 1871.
Dadurch beinhaltete diese „Kriegerehrung“ eine - nicht unproblematische - politische Vision und politische Wirkungsabsicht.
Ausgehend von diesem Bilderzyklus untersucht der Dortmunder Historiker Thomas Parent am 27. Oktober 2024 in einem Bildvortrag die soziale und politische Aussageabsicht
von Passionsdarstellungen im Ruhrgebiet im Industriezeitalter. Dies geschieht vor allem anhand der populären „Kreuzwege“ in katholischen Kirchen,
wo die Passion Christi in vierzehn „Stationen“ nachgezeichnet wird, von der Verurteilung durch Pilatus bis hin zur Grablegung.
Bedeutsame Beispiele für einen solchen Kreuzweg finden sich in Gelsenkirchen u.a. in der Propsteikirche St. Augustinus im Stadtzentrum sowie in den historistischen Hauptkirchen von Horst, Buer und Hassel.
Vor allem seit der Reichsgründung von 1871 verorteten die Künstler das christliche Heilgeschehen nicht mehr in das antike Palästina, sondern in ein national akzentuiertes Deutschland: Die Stadtkulisse von Jerusalem zeichnet sich nun durchpittoreske Fachwerkhäuser und gotische Kirchtürme aus. Jüdischen Frauen, denen Christus auf dem Weg nach Golgotha begegnet, tragen Zopffrisuren, und auch der Apostel Johannes ist blondhaarig. Simon von Cyrene, der von den römischen Soldaten kurzfristig verpflichtet wurde, für den erschöpften Heiland das schwere Kreuz zu schleppen, ist auf manchen Kreuzwegen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wie ein westfälischer Bauer gekleidet.
Die Pharisäer, die bei Pilatus das Todesurteil für Christus durchsetzen, werden auf solchen Passionsbildern häufig als unsympathische Finsterlinge dargestellt. In der St.-Alexiuskirche von Paderborn-Benhausen zeigt eine Kreuzwegstation, wie ein jüdischer Priester dem gestürzten Jesus einen Fußtritt ins Gesäß versetzt. In der Gelsenkirchener Propsteikirche St. Augustinus ist dargestellt, wie ein Geistlicher einen römischen Soldaten daran hindern will, dem Heiland wieder aufzuhelfen. Die Künstler statteten solche Kleriker auch mit negativ konnotierten Merkmalen für die jüdische „Rasse“ aus, durchgängig mit einem Rauschebart, gelegentlich auch mit einer ausgeprägten Hakennase.
In Gelsenkirchen geriet der Kreuzweg von St. Ludgerus in Buer vor fünf Jahren ins öffentliche Blickfeld. Er war 1937/38 von der Bildhauerwerkstatt Meier aus Bulmke angefertigt worden, die zehn Jahre zuvor ein eindrucksvolles expressionistisches Triumphkreuz aus Ziegelsteinen für die monumentale Turmfassade der Heilig-Kreuz-Kirche in Gelsenkirchen-Ückendorf geschaffen hatte. Demgegenüber wirkt der Buerer Kreuzweg volkstümelnd und plump. Mehrere Pharisäer sind dort ebenfalls klischeehaft als „Juden“ gekennzeichnet. Ihr Gesichtsausdruck ist selbstgewiss und selbstzufrieden, hämisch oderschadenfroh. Zweimal greifen sie aktiv in das Geschehen ein: Ein römischer Soldat wird aufgefordert, die emotional anrührende Begegnung zwischen Christus und seiner Mutter Maria zu unterbinden bzw. den gestürzten Heiland mit der Geißel zu schlagen.
Die Soldaten, die den Gang nach Golgotha überwachen, wirken grobschlächtig und tragen keineswegs „römische“ Militär-Uniformen, sondern zumeist eine Mischung aus Arbeits- und Freizeitkleidung, wie sie in den 1930er Jahren üblich war. Routiniert tun sie ihre Pflicht und blicken dabei argwöhnisch und abschätzig auf den erbärmlich gefolterten Heiland. Unwillkürlich denkt man hier an NS-Schlägertrupps, wie sie seit 1933 die jüdische Bevölkerung in Deutschland immer aggressiver terrorisierten. Der Kreuzweg von St. Ludgerus wurde im Frühjahr 1938 eingeweiht, wenige Monate vor der Reichspogromnacht! Aus heutiger Sicht wirkt er widerlich und peinlich. Es ist allerdings nachgewiesen, dass sich damals weder die Künstlerfamilie Meyer noch der Pastor von St. Ludgerus für den Nationalsozialismus engagierten. Vielmehrfolgten sie – vermutlich gedankenlos – dem antisemitischen Zeitgeist.
Auch die Kriegerehrung von 1924 in der Christuskirche von Bismarck wird in dem Bildvortrag als nationalistisches Zeugnis hinterfragt.
Der heidnische Hauptmann, der dort die Gesichtszüge Otto von Bismarcks trägt, war – so die Bibel – der erste Römer, der sich zum Christentum bekehrte.
Erschüttert durch die dramatischen Begleitumstände der Hinrichtung – „der Vorhang des Tempels zerriss, die Erde bebte und die Felsen spalteten sich“ – sprach er
im Augenblick des Kreuzestods Christi prophetische Worte aus: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!“
Die Darstellung auf dieser Kriegerehrung weist Bismarck ebenfalls die Rolle eines Propheten zu: Mit der mythischen Autorität des „Reichsgründers“ prophezeit er hier,
dass das Deutsche Reich nach seiner katastrophalen Weltkriegsniederlage bald wieder zu neuer Kraft und Herrlichkeit „auferstehen“ werde.
Angesichts der tatsächlichen Entwicklung, die u.a. im Buerer Kreuzweg von St. Ludgerus dokumentiert ist, wirkt eine solche Prophezeiung für uns heute makaber.
In der Ausstellung werden die Entstehungsumstände, inhaltliche
Besonderheiten wie integrierte Pfarrerporträts und eine Darstellung
Otto von Bismarcks ebenso in den Blick genommen wie die
Restaurierungen 2006 und 2021.